Was ist die Rolle der Literaturwissenschaft im Ensemble kulturwissenschaftlicher Fakultäten?
Der kulturwissenschaftliche Quellenwert der Literatur und das in ihr angesammelte, durch sie definierte kulturelle Kapital liegt auf der Hand; seine methodische, curriculare Bedeutung ist damit aber kaum erst erfasst. Was lohnt sich zu wissen und unter welchen Begriffen von Wissen ist es zu fassen? Lebenswissen kann nicht nur das des eigenen, leitkulturell geteilten Lebens sein. Hermeneutische Skepsis allein, auch methodische Funktionalität allein, ist der Last der Bilanzen, dem Ausmaß der Latenzen nicht gewachsen, die das kulturelle Kapital: die in den Werken der Literatur, der Kunst und der Philosophie mitgeführten und bearbeiteten, verkannten oder auch verleugneten Hypotheken in sich tragen.
Der Kanon, der in den Blick zu nehmen ist als der Stoff, aus dem die Kultur ist: die Masse der wirkungsmächtigen literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen Texte und Bilder war lange genug ein von nationalen Phantasmen umgetriebenes Phantom. Eine post-nationale Philologie muss ihn beim weltpolitischen Stand der Dinge als einen offenen, konflikthaften Prozess begreifen. An der Stelle der methodisch schwachen komparatistischen Versionen des europäischen Kanons, in denen die nationalliterarischen Stereotypen fortlebten, ja mit Fleiß herauspräpariert waren, braucht die kulturanalytische Revision nicht so sehr neue Werke – zu deren Auffindung war die alte Philologie allemal in der Lage – als neue Kriterien: analytische (formale, strukturelle, funktionale), politische (geschlechterpolitische, geo- und biopolitische). Keine neuen Ereignisse sind aufzufinden, sondern – im Gegenteil – deren weltliterarisch ausgreifende, raum-zeitliche Dynamik: Interaktionen, Rezeptionen, Latenzen.
Diesseits der OderFrankfurter Vorlesungen
»Kein anderer Geisteswissenschaftler, kein anderer Intellektueller meiner Generation hat die Komplementarität und die produktive Spannung zwischen zwei zentralen westlichen Traditionen aus den Jahrzehnten nach 1945, die Spannung zwischen einer ihre Grenzen und blinden Flecken reflektierenden Ideengeschichte und einer sich selbst nicht übernehmenden Dekonstruktion als unnachgiebig genauer Praxis des Lesens, so konsequent und erfolgreich ausgespielt wie Anselm Haverkamp. Daraus ist eine ebenso überraschende wie plausible Genealogie der Moderne – eine neue Geschichte der Form des Denkens – entstanden, die tief im Mittelalter einsetzt und dort italienisch wird, um am Ende ihren gegenwärtigen Ort diesseits der Oder zu entdecken. Wer Haverkamps neues Buch versäumt, muss sich vorwerfen lassen, mit einer konventionellen Form der eigenen Vorgeschichte zufrieden zu sein.« Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford University