Zahlen sprechen ihre eigene Sprache. So erklärte der Präsident der deutschen Gesellschaft für Informatik, Prof. Mathias Jarke, im Januar 2006 in der »Welt«, dass es seit dem Jahr 2000 auf der Welt mehr Computer als Menschen gibt – im Jahr 2006 sind es bereits dreimal so viele. Wenige Wochen später, im März 2006, heißt es im »Spiegel« unter dem Titel W@re Liebe über Online-Kontakt- und Partnerschaftsvermittlungsbörsen: »Nach einer Studie der Schweizer Universität St. Gallen sind 63 Prozent der Nutzer zwischen 19 und 34 Jahre alt. 70 Prozent sind Männer.« Der Artikel kommt zu dem Ergebnis: »Das Internet vermittelt Wahrscheinlichkeiten – keine Gefühle.«
Zwischen Rechner und Mensch gibt es nur geschriebene Worte, die auf mathematischen Operationen beruhen – oder das Offline. Entsprechend regiert auch zwischen Menschen, die durch die Verschaltung mehrerer Computer hindurch eine Verbindung zueinander eingehen, ein technisch-muttersprachlicher, sprich schriftsprachlich-berechneter Code. Sinn und Unsinn dieser getippt-kompilierten Worte werden ebenso scheinbar wie die sie begleitenden Gefühle berechnet – auch wenn Letztere unberechenbar bleiben. Das drohende Zerplatzen der Seifenblase der Gefühle in Anbetracht der ersten körperlichen Begegnung zweier Menschen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt im Chat ausschließlich schriftlich ausgetauscht haben, erinnert in vielerlei Hinsicht an wiederkehrende spezifische Momente im Verlaufe der psychoanalytischen Situation.
»Schwebende Zeichen« untersucht anhand des Begriffes der »Übertragungsliebe« den Zusammenhang der medientechnischen Differenz von schriftsprachlichem Chat und oralsprachlicher Therapie, und entwirft in diesem Zuge unter dem Begriff »literales Stadium« eine Psychodynamik des Schriftsprachenerwerbs.
Buch Taschenbuch, broschiert
Kaleidogramme, Band 62
Januar 2010
288 Seiten
15 x 23 cm
ISBN 978-3-86599-109-6 9783865991096
Buch
26,80 €
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