Die wechselseitige Bedingtheit von Klang und Notation in der Musik stellt für die US-amerikanische und europäische Nachkriegsavantgarde ein Problem dar: Wie sollen die neuen, sich herkömmlichen Systemen entziehenden Klänge visuell fixiert werden? Zahlreiche Komponisten antworten auf diese Frage mit der Entwicklung eigener Notationsästhetiken, die sich auch bildlicher Elemente bedienen. Die wahrnehmungstheoretischen und performativen Implikationen dieses Paradigmenwechsels werden in Earle Browns Zyklus »Folio« (1952–53) reflektiert.
Eine Untersuchung seiner Partituren anhand von zeitgenössischen Schrift- und Bildtheorien zeigt, dass diese Kunstpraxis zwar Aspekte beider Medien berührt, sich durch deren Ansätze jedoch nicht ganz ergründen lässt. Der zwischen Dekodierung und Kontemplation oszillierende Blick auf die Partitur wird aufgefordert, aus dem visuellen Fundus Klangereignisse herauszudestillieren. Diese ästhetische Operation setzt eine zeitweilige Überbrückung des ihr zugrunde liegenden medialen Hiatus voraus. Der theoretische Entwurf einer »Auralen Latenz« versucht der rätselhaften Natur dieses Vorgehens auf den Grund zu gehen.